Artwork: Shaenas Hütte – aus „Die Seele des Alchemisten“

Shaenas Hütte von Rudy Eizenhöfer
Shaenas Hütte von Rudy Eizenhöfer

Die Hütte stand nahe der Küste am Rande eines kleinen Waldes aus verkrüppelten, vom Wind gebeugten Bäumen, von denen kaum einer höher wuchs als das Dach der Behausung. Die Bäume waren vollkommen kahl. Kein einziges Blatt wuchs auf den Ästen, keine Blüte oder Knospe brachte das Versprechen von Wachstum und Frühling. Nur hier und da hing an einem der Bäume eine verfaulte Frucht als schwarze, verschrumpelte Hülle. Eulen oder Käuzchen, vor denen die Ratte sich hätte fürchten müssen, gab es in diesem Wald nicht. Sie hatten sich schon vor langer Zeit andere Orte zum Jagen und Nisten gesucht. Stattdessen flatterten zwischen den dürren, kahlen Zweigen Motten und Nachtfalter umher.

Die zarten, grauen Flügel der Tiere wirkten im Licht des sichelförmigen Mondes fast durchscheinend. Und auch im Unterholz der Bäume herrschte reges, wimmelndes Leben. Igel oder Hasen suchte man hier vergebens, doch dafür krochen hunderte von Würmern, Insekten und Spinnen durch das dicht verflochtene Wurzelwerk. Glänzende Käfer und fette Maden nagten an der Rinde der Bäume und was von ihnen abfiel, wurde zum Nachtmahl der Würmer und Schnecken. Es war ein Wald des Verfalls und des langsamen Todes, der jetzt des Nachts eine bizarre Schönheit entfaltete.
Solche Gedanken waren der Ratte in der Hütte vollkommen fremd. Der Hunger plagte sie und trieb sie gegen ihren Instinkt zur Vorsicht weiter. Im hinteren Teil der Kammer, dort wo die Hütte an den Wald grenzte, gab es einen Bereich, in den kein Mondstrahl drang. Dort waren die Schatten undurchdringlich, so als wäre  eine scharfe Grenze gezogen, zwischen der realen Welt und einer Welt der Finsternis. Dorthin zog es die Ratte, denn aus diesem Winkel kam der Geruch, der sie angelockt hatte. Mit trippelnden Schritten näherte sich das Tier, bis es nur noch einen halben Meter von den Schatten entfernt war. Der Geruch war stärker geworden, durchdringender. Die Barthaare der Ratte zuckten aufgeregt hin und her. Fast schienen sich die kahlen Äste der Bäume draußen vor der Hütte im gleichen Takt zu bewegen.

Aus dem Roman: Die Seele des Alchemisten. Erhältlich als eBook und Taschenbuch.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.